Studie  |  22.07.2022

Wie Ahnenforschung die Wissenschaft unterstützt – ein Citizen-Science-Projekt

Das Institut führt ge­mein­sam mit dem Verein für Com­puter­ge­nea­logie (CompGen) ein Dig­ita­lisie­rungs­projekt durch, bei dem Laien bei der Daten­er­fas­sung helfen. Die Daten aus über 100 Jahr­gängen der „Jahres­ver­zeich­nisse der an den Deut­schen Uni­ver­sitäten und Hoch­schulen er­schie­ne­nen Schriften“ er­öff­nen viele neue, span­nende For­schungs­fragen.

Michael E. Rose beim Scan eines Verzeichnisses
Senior Research Fellow Michael E. Rose, Ph.D., beim Scan eines Verzeichnisses
Eintrag der Dissertation von Fritz Haber in der Bearbeitungsmaske
Eintrag der Dissertation von Fritz Haber in der Bearbeitungsmaske
Originaleintrag der Dissertation von Hilde Mangold
Originaleintrag der Dissertation von Hilde Mangold

Citizen Science, auch Bürger­wissen­schaft genannt, lebt von der Interaktion zwischen Bürger*innen und For­schenden. Das Ko­operations­interesse nimmt stetig zu. Bekannt sind Projekte im Umwelt­bereich vom Vogel­zählen bis zur Bienen­beobachtung.


Seit Dezember 2021 kooperiert nun das MPI für Innovation und Wett­bewerb mit dem Verein für Computergenealogie (Comp­Gen) in einem Daten­projekt, bei dem die „Jahres­verzeich­nisse der an den Deut­schen Uni­ver­sitäten und Hoch­schulen erschienenen Schriften“ erfasst werden. Die Ver­zeich­nisse, die zwischen 1885 und 1987 zunächst von der Königlichen Bibliothek Berlin und später von der Deutschen Bücherei in Leipzig herausgegeben wurden und 103 Jahr­gänge umfassen, listen hauptsächlich Disser­tationen und Habilitations­schriften auf, die an deutschen Uni­versitäten und Hoch­schulen ent­standen sind. Danach wurden die Ver­zeich­nisse in dieser Form eingestellt. Eine digitale Fort­setzung scheiterte.


Für die Bürger*innen, die Genealogie oder Familien­forschung be­trei­ben, sind die Listen, die teils reiche bio­graphische Angaben ent­halten, inter­essant, weil sie hoffen, auf Vor­fahren, Träger*innen gleichen Namens oder Personen aus ihrem Ort oder ihrer Region zu treffen. So berichtet die am Projekt mit­ar­bei­tende Birgit Casper zu ihrer Moti­vation bei der Daten­erfassung: „Ich kenne in meiner Familie zwei Ärzte. Von einem, geb. 1891, weiß ich ziemlich genau, wo er studiert hat und dass er 1920 seine Dis­ser­tation ‚Über Vergiftungs­fälle mit ameri­kanischem Wurm­samen­öl‘ an der medi­zi­ni­schen Fa­kultät in Rostock abgegeben hat. Vom anderen, geb. 1892, weiß ich nur, wo er ab 1924 als Arzt prak­tiziert hat. Ich weiß weder, wo er studiert hat, noch wann und über welches Thema er promo­viert hat. Da warte ich auf den ent­sprechenden Band.“


Für die Wissen­schaft sind die Listen spannend, da sie eine voll­ständige Über­sicht über For­schende geben, die seit 1885 an deut­schen Hoch­schulen aus­ge­bildet wurden und teils inter­national be­deu­tend waren. Da deut­sche Hoch­schulen um die Jahr­hundert­wende in nahezu allen Dis­zi­plinen inter­national füh­rend waren, verspricht das Projekt be­sonders inter­essante Ein­blicke: Wir finden die Disser­tationen zahl­reicher späterer Nobel­preis­träger*innen, wie von Walther Nernst, der 1920 den Nobel­preis für Chemie erhielt und im Direk­torium des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Physik war, sowie Werner Heisenberg, dem späteren Namens­geber des nachfolgenden MPI für Physik, und zudem mit Maria Goeppert-Mayer, die 1963 mit dem Nobel­preis für Physik ausgezeichnet wurde, die erste deutsche Nobel­preis­trägerin.


Auch der erste reguläre Doktor­titel für eine Frau wird sich in den Listen finden. Tat­sächl­ich sind Frauen zunächst stark unter­re­präsen­tiert. Nur wenige durften vor 1900 promo­vieren und dies nur mit Sonder­ge­neh­migung. Erst zwischen 1901 und 1908 ließen die deut­schen Staaten Frauen suk­zessive an ihren Hoch­schulen zu. Das Recht zur Promo­tion jedoch ver­gaben die Fa­kul­­täten selbst. Eine sys­tema­tische Er­fassung aller Disser­tationen wird somit eine voll­ständige Über­sicht generieren, ab wann spätestens Frauen an welchen Hoch­schulen und Fa­kul­täten promo­vieren durften. Das Recht zur Habilitation – der Weg zur Professur – wurde ihnen übrigens noch später gegeben: Auch hier können die Listen helfen, Licht ins Dunkel zu bringen.


Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Laien im Projekt?


Um Freiwillige zu finden, die an dem Projekt mitarbeiten wollen, publiziert CompGen auf Twitter und im Blog auf der Compgen-Website Aufrufe und Updates. Auf einer speziellen Wiki-Seite zum Projekt können die Freiwilligen sich registrieren, über die Editionsrichtlinien informieren und direkt mit der Datenbearbeitung beginnen.


Michael E. Rose, Senior Research Fellow am MPI für Innovation und Wettbewerb, der das Projekt leitet und im Bereich „Science of Science“, also Forschung über Wissenschaft an sich, tätig ist, scannt die Verzeichnisse sukzessive.


Dann werden die Listen mit einem Text­er­ken­nungs­pro­gramm er­fasst und grob seg­mentiert: Was sind Vorname, Nachname, Titel der Disser­tation, das Datum der Ver­tei­digung, weitere An­gaben? Die Frei­willigen aus der Ah­nen­­forschung nutzen die vom Verein bereit­gestellte Infra­struktur (Eingabemaske und Datenspeicher), um die Einträge Korrektur zu lesen und händisch zu ergänzen. Die erfassten Daten­sätze stehen sofort für eine Such­ab­frage bereit. Bisher wurden sieben Jahr­gänge bearbeitet. Nach Ab­schluss des Projekts werden die Listen, die mit Ver­knüp­fungen, etwa zur Deutschen National­bibliothek, zu Wikipedia und Scopus, einer multi­disziplinären Abstract- und Zitations­datenbank für Forschungs­literatur, versehen sind, öffent­lich als Forschungs­daten ver­fügbar sein.


Eine der be­kann­testen bisher erfassten Persön­lich­keiten ist Fritz Haber, der als Gründungs­direktor 22 Jahre lang das KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin leitete, das heute nach ihm benannt ist. Seine Disser­tation „Ueber einige Derivate des Piperonals“, einen fungiziden Duft­stoff, findet sich im VI. Jahrgang (1890/91). Fritz Haber erhielt den Nobel­preis 1919, nach­träglich für das Jahr 1918, für seine For­schung zur katalytischen Synthese von Ammoniak – also in einem anderen Forschungs­bereich als seine Dissertation.


Max von Laue hingegen, der 1903 bei Max Planck „Über die Inter­ferenz­erschei­nungen an plan­paral­lelen Platten“ promo­vierte, verfolgte die mit der Disser­tation begonnene Forschung weiter – bis zum Nobel­preis, der ihm 1914 für seine Arbeit über Röntgen­strahl­inter­ferenzen zuerkannt wurde.


Jedoch nicht allen Promo­vierenden konnte die verdiente An­erken­nung zuteilwerden. Die Forschung von Hilde Mangold im Bereich der Em­bryologie führte 1935 zu einem Nobel­preis für ihren Doktor­vater Hans Spemann, der während des Ersten Weltkriegs Direktor am KWI für Biologie in Berlin-Dahlem war. Mangold selbst kam kurz nach Ver­tei­digung ihrer Disser­tation 1924 bei einem Brand ums Leben. Immer­hin wird die prämierte Entdeckung, der Spemann-Organisator, gelegent­lich auch Spemann-Mangold-Organisator genannt.


Die im Projekt digitalisierten Daten ermöglichen aufgrund ihrer Detailtiefe und Vollständigkeit zahlreiche spannende Forschungsfragen. Können wir an juristischen Dissertationen Probleme einer Epoche ablesen? Wie ändern sich Demographie und soziale Herkunft von Promovierenden im Laufe der Zeit und an den einzelnen Universitäten? Wer waren die Frauen, die als Pionierinnen einen Doktortitel errangen? Wie ist der Zusammenhang von Dissertationen und Patentaktivität?


Doch zuvor muss der Datensatz fertig gestellt werden und dafür wird noch jede Hand und jedes Augenpaar gebraucht. Mehr Informationen unter https://wiki.genealogy.net/Hochschulschriften.