Ziel der Wissenschaft ist, Wissen zu produzieren. Um diesen Prozess zu erleichtern, ist die Wissenschaft nach einer Reihe von Grundsätzen organisiert, die als „Merton’sche Normen“ bekannt sind. Ein Grundsatz ist unter anderem, dass Ideen nach ihrem eigenen Wert beurteilt werden, unabhängig davon, wer sie geschaffen hat. Gleichzeitig ist Wissenschaft aber auch ein soziales System. Die Gemeinschaft der Forschenden kann sich auf zusätzliche Normen stützen, um ein inklusives Umfeld zu schaffen und sich selbst zu regulieren. Manchmal stehen diese Normen in Konflikt miteinander.
Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Gemeinschaft den wissenschaftlichen Artikeln von Forschenden, von denen Arbeiten zurückgezogen wurden, weniger Aufmerksamkeit schenkt, d.h. sie weniger zitiert. Eine solche Strafe kann als vereinbar mit Merton’schen Normen angesehen werden, da Rücknahmen Zweifel an der Gültigkeit der Arbeit aufkommen lassen. Vergleichbare Strafen für Beiträge von Forschenden, die in eklatanter Weise gegen soziale Normen verstoßen haben, sind jedoch problematisch.
In einer neuen Studie versuchen Rainer Widmann, Michael E. Rose und Marina Chugunova die Frage zu beantworten, ob die wissenschaftliche Gemeinschaft nicht nur „schlechte Wissenschaft“, sondern auch „schlechtes Sozialverhalten“ sanktioniert. Sie konzentrieren sich dabei auf sexuelles Fehlverhalten, das in der Wissenschaft wie auch in anderen Bereichen eine verbreitete Form der Verletzung sozialer Normen darstellt.
In ihrer Analyse verfolgen sie die Zitierungen wissenschaftlicher Artikel mutmaßlicher Täter, die vor Anschuldigungen sexuellen Fehlverhaltens veröffentlicht wurden, und vergleichen sie mit den Zitierungen anderer Artikel aus der gleichen Zeitschriftenausgabe. Sie stellen fest, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft frühere Arbeiten mutmaßlicher Täter weniger zitiert, nachdem Anschuldigungen sexuellen Fehlverhaltens aufgetaucht sind. Forschende, die dem Täter im Rahmen eines Koautoren-Netzwerks sehr nahestehen (z.B. ehemalige Koautor*innen), reagieren am stärksten und reduzieren ihre Zitierungen am deutlichsten. Vergleicht man die Ergebnisse der neuen Studie mit Zitationsstrafen für wissenschaftliches Fehlverhalten, scheinen die Größenordnungen ähnlich zu sein. Schließlich dokumentiert die Studie, dass mutmaßliche Täter mit spürbaren Konsequenzen für ihre Karriere zu rechnen haben: Sie veröffentlichen weniger, kooperieren weniger mit anderen und verlassen die akademische Forschung mit größerer Wahrscheinlichkeit.
Es kann mehrere Gründe geben, warum Autorinnen und Autoren Zitate zurückhalten. Erstens könnten sie dies tun, um zu bestrafen – selbst dann, wenn die Bestrafung mit Kosten verbunden ist, etwa einem Abweichen von der üblichen Norm beim Zitieren relevanter früherer Arbeiten. Zweitens zitieren Autorinnen und Autoren möglicherweise deshalb nicht, um nicht als Befürworter sexuellen Fehlverhaltens zu gelten. Dieses Motiv könnte besonders für Forschende relevant sein, die dem mutmaßlichen Täter nahestehen. Drittens trennen Fachkolleginnen und -kollegen möglicherweise nicht zwischen akademischem und nichtakademischem Fehlverhalten oder sind der Ansicht, dass Fehlverhalten in beiden Bereichen zusammenhängt.
Die vorgestellte Studie ist die erste, die systematische Erkenntnisse über die Folgen sexuellen Fehlverhaltens für die Täter liefert. Die Ergebnisse werfen eine Reihe ethischer Fragen auf, die das Spannungsverhältnis zwischen der Förderung von Wissen und der Förderung der Wissenschaft als sozialer Institution verdeutlichen. Ist der Rückgang der Zitate von früheren Arbeiten des Täters eine unangemessene Verzerrung des wissenschaftlichen Prozesses oder eine angemessene Strafe? Ist der Verlust an wissenschaftlichem Output durch den Ausschluss oder die Bestrafung von mutmaßlichen Tätern akzeptabel? Sind die dokumentierten Konsequenzen für die berufliche Laufbahn angemessen, wobei auch ein möglicher Abschreckungseffekt für (künftige) Opfer berücksichtigt wird? Die Ergebnisse der Studie bieten eine neue Grundlage für eine Diskussion dieser wichtigen Themen.
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Allegations of Sexual Misconduct, Accused scientists, and Their Research
Max Planck Institute for innovation and Competition Research Paper No. 22-18