Der Roundtable wurde organisiert von Liudmyla Petrenko, Daria Kim und Oksana Kashyntseva und widmete sich gesundheitspolitischen Maßnahmen und Regelungen in der Ukraine.
Die Vortragenden repräsentierten ein breites Spektrum von Institutionen, darunter den National Security and Defense Council of Ukraine, die Kyiv National Economic University, die Ukrainian Association for Clinical Research, die Taras Shevchenko National University of Kyiv, die National Academy of Legal Sciences of Ukraine sowie die Yaroslav Mudryi National Law University.
Die ukrainische pharmazeutische Industrie: Strategische und industriepolitische Perspektiven
In der ersten Diskussionsrunde, die von Dietmar Harhoff moderiert wurde, ging es um den hohen Entwicklungsstand der pharmazeutischen Industrie in der Vorkriegszeit, ihr Potenzial und die Zerstörungen des ersten Kriegsjahres.
Die ukrainische Pharmaindustrie blickt auf eine über 100-jährige Geschichte zurück. Die erste industrielle Pharmaproduktion wurde 1907 in Charkiw aufgebaut. Zu Sowjetzeiten waren etwa 70 % der industriellen Pharma- und Forschungskapazitäten der Sowjetunion in der Ukraine konzentriert. Im Vorkriegsjahr belief sich der ukrainische Pharmamarkt auf über 3,6 Milliarden US-Dollar. Auf den Apothekensektor entfielen 3,2 Milliarden US-Dollar, auf den Krankenhaussektor 0,4 Milliarden US-Dollar.
Bis heute wurden in der Ukraine 1.400 Gebäude beschädigt oder zerstört, darunter 574 Einrichtungen des Gesundheitswesens. Bei den meisten handelt es sich um Einrichtungen der Erst-, Notfall- und Spezialversorgung. Nach vorläufigen Schätzungen belaufen sich die Kosten für den Wiederaufbau auf etwa 1 Mrd. US-Dollar. Dementsprechend beliefen sich die Verluste auf dem ukrainischen Pharmamarkt im Jahr 2022 im Vergleich zu 2021 auf 22,4 % in physischer Hinsicht (Einheiten von Arzneimitteln), 26,7 % in monetärer Hinsicht und 19,2 % bei den Apotheken, von denen fast 4.000 geschlossen wurden. Infolgedessen wurde der Zugang zu Medikamenten in der gesamten Ukraine unterbrochen.
Arzneimittelforschung und -entwicklung in der Ukraine
Das zweite Panel, moderiert von Anastasiia Lutsenko, befasste sich mit klinischen Studien.
Die klinische Forschung hatte vor dem Krieg erhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Der Anteil ukrainischer Proband*innen in klinischen Studien betrug jedes Jahr 2 % des weltweiten Patientenpools (mit 30.000 aktiv Teilnehmenden an 500 Studien), was für ein kleines Land ein hoher Anteil ist. In den fünf Jahren vor Kriegsbeginn stieg die Zahl neuer klinischer Studien um das Zweieinhalbfache, die Zahl der Forschungsstandorte um 20 % und die Zahl der aktiv Forschenden in diesem Bereich um 44 %.
Der Plan zur Wiederherstellung des ukrainischen Gesundheitssystems nach dem Krieg umfasst für das nächste Jahrzehnt eine Mehrwertsteuerbefreiung für die Einfuhr von Arzneimitteln für klinische Studien, steuerliche und andere Anreize für Unternehmen, die an der Durchführung klinischer Studien beteiligt sind, die Entwicklung der Forschungsinfrastruktur und des Forschungspotenzials sowie die Einführung eines Versicherungssystems für die klinische Forschung in Form einer Entschädigung für mögliche Schäden für alle Teilnehmenden an klinischen Studien.
Ein Ausblick auf den regulatorischen Rahmen für den ukrainischen Pharmasektor
Die Referierenden des dritten Panels, das von Daria Kim moderiert wurde, kritisierten die Praxis des Pharmamarketings in der Ukraine.
Sie warfen dem pharmazeutischen und medizinischen Fachpersonal vor, bei der Ausübung ihrer Tätigkeit unangemessen vorzugehen, indem sie beispielsweise für Produkte werben, die entweder gefährlich für die Patientinnen und Patienten sein können oder keine entsprechende therapeutische Wirkung haben, um so unangemessenen Profit zu erzielen. Sie sprachen auch die Monopolisierung im Bereich des Apothekenwesens an, die in verdeckter Form betrieben wird und zu erheblichen Preiserhöhungen für pharmazeutische Produkte führt, sowie die Praxis der Fälschung pharmazeutischer Produkte.
Die stillschweigende Duldung von Monopolisierung im Bereich des Apothekenwesens durch den Staat, insbesondere durch Kommunalverwaltungen, und die Schaffung von Mega-Apothekenketten hat zu einer Minimierung des wirtschaftlichen Wettbewerbs und zum Missbrauch von Monopolmacht geführt. Die stillschweigende Zustimmung des Staates zur Entwicklung von Marketingvereinbarungen auf dem Pharmamarkt sind Ursache einer Verteuerung von Arzneimitteln. Vergleiche mit Preisen in Referenzländern haben gezeigt, dass die Preise für pharmazeutische Produkte in der Ukraine vor dem Krieg aufgrund von Marketingvereinbarungen um 40 % überhöht waren.
Ausblicke auf Fragen des geistigen Eigentums in der ukrainischen Pharmaindustrie
Das letzte Panel, moderiert von Reto M. Hilty, zeigte, dass die Ukraine mit rund 120 Pharmaunternehmen über beträchtliche Produktionskapazitäten verfügt, die Möglichkeiten für eine weitere Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der Europäischen Union bieten:
- Auftragsfertigung für große internationale Arzneimittelhersteller, Transfer neuer Technologien und Herstellung innovativer Arzneimittel (zur Versorgung der Märkte in der EU, der Ukraine, Moldawien, Georgien, dem Nahen Osten und Nordafrika)
- Integration der Ukraine in verkürzte Lieferketten durch die Produktion von aktiven pharmazeutischen Wirkstoffen (API) für den Bedarf der EU
- Herstellung von mRNA-basierten Impfstoffen in der Ukraine
- Gewährleistung einer ununterbrochenen Versorgung mit generischen Arzneimitteln (durch Ersatz von Lieferungen aus China und Indien)
- Durchführung klinischer Studien in der Ukraine als Ersatz für den russischen Markt, wo die meisten internationalen Unternehmen aufgrund der internationalen Sanktionen derzeit keine Studien durchführen.
Der Roundtable endete mit einem Appell an die EU und die internationalen Partner, Programme zu entwickeln und zu implementieren, um internationale Unternehmen zur Zusammenarbeit beim Technologietransfer und zur Produktion von Arzneimitteln in der Ukraine zu ermutigen und um die logistischen Vorteile des Landes zu nutzen. Es wurde auch angeregt, finanzielle Unterstützungsprogramme für die Entwicklung der Produktion von aktiven pharmazeutischen Wirkstoffen in der Ukraine zu schaffen. Die regulatorischen Hürden für die Ausfuhr ukrainischer Arzneimittel in die EU sollten durch die Einführung spezieller Inspektionsverfahren zur Gewährleistung der guten Herstellungspraxis (GMP) gemäß den GMP-Standards der EU sowie spezieller Inspektionsverfahren auch für den ukrainischen Inlandsmarkt (PIC/S GMP-Standards) vereinfacht werden. Dies sollte mit der Einrichtung von Schulungsprogrammen und einer angemessenen Qualifizierung von Inspektionspersonal einhergehen, das ukrainischen Herstellern Bescheinigungen gemäß GMP-Standards der EU ausstellt.
Wir danken allen Vortragenden und Teilnehmenden, insbesondere unseren Gästen aus der Ukraine, sowie den Organisatorinnen für ihre wertvollen Beiträge und freuen uns auf weitere Roundtables, die dazu beitragen sollen, die Ukraine für eine erfolgreiche Zukunft wiederaufzubauen.
Zum vollständigen Programm mit allen Vortragenden, ihren Affiliationen sowie allen Themen.
Zur Rückschau den ersten explorativen Roundtable vom 1. Dezember 2022.