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Dissertation
Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht

Fairness als Rechtsprinzip – Die anständigen Marktgepflogenheiten der Digitalwirtschaft

Von Plattformmärkten bis zu künstlicher Intelligenz erscheint „Fairness“ als das Leitmotiv für die Regulierung der digitalen Wirtschaft. Was aber bedeutet der schillernde Begriff im Recht? Dieser sowohl aus grundlagenwissenschaftlicher als auch praktischer Sicht drängenden Frage geht die Arbeit „Fairness als Rechtsprinzip“ nach. Auf Basis eines interdisziplinären Ansatzes entwirft sie eine neue, übergreifende Fairness-Theorie für das wettbewerbsbezogene Wirtschaftsrecht (Lauterkeits-, Kartell-, Immaterialgüter-, Geschäftsgeheimnis-, Vertrags-, Antidiskriminierungs- und Datenschutzrecht). Im Zentrum steht die Idee einer modernisierten Rückbesinnung auf die klassische Formel des Art. 10bis Abs. 2 PVÜ, wonach „unfair competition“ jedes Wettbewerbsverhalten ist, das den „anständigen Gepflogenheiten in Handel und Gewerbe“ zuwiderläuft. Die zuletzt in den Hintergrund getretene Annahme, es handele sich hierbei um einen kontrollierten Verweis auf außerrechtliche, gesellschaftliche Ordnungsgefüge, bedarf im Angesicht von Globalisierung und Digitalisierung neuer Aufmerksamkeit.

Fairness erscheint als das Leitmotiv für die Regulierung der digitalen Wirtschaft. Der Begriff steht im Zentrum zahlreicher Leitlinien zur Regulierung künstlicher Intelligenz: Internetplattformen und Tech-Unternehmen sollen sich an Regeln der Fairness orientieren, Wettbewerbsbehörden faire Märkte sicherstellen, etc. Obwohl das Phänomen der Fairness die Jurisprudenz in regelmäßigen Wellen beschäftigt, ist noch immer unzureichend geklärt, worin sein exakter rechtlicher Gehalt liegt. Dieser Zustand ist unbefriedigend – sowohl aus Perspektive grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses als auch aus praktischer Sicht auf Rechtssicherheit angewiesener Marktakteure.

Als internationalrechtlicher Ursprung des Ansatzes, moderne Märkte am Maßstab der Fairness zu messen, lässt sich der im Jahre 1925 eingefügte Art. 10bis Abs. 2 PVÜ begreifen: Danach ist „unfair competition“ jedes Wettbewerbsverhalten, das den „anständigen Gepflogenheiten in Handel und Gewerbe“ zuwiderläuft, bzw. „contrary to honest practices in industrial or commercial matters“ ist. Diese klassische Formel wird bis heute als Bewertungsmaßstab für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer wettbewerblichen Handlung in diversen Rechtsgebieten herangezogen, in jüngerer Vergangenheit wieder in der EU-Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Die gegenständliche Arbeit zeigt auf, dass eine modernisierte Rückbesinnung auf einen klassischen Interpretationsansatz von Art. 10bis in überzeugender Weise den Weg zum Verständnis auch eines übergreifenden Fairness-Prinzips des wettbewerbsbezogenen Wirtschaftsrechts zu weisen vermag.

Dabei handelt es sich um die Idee, dass es sich bei diesen „anständigen Gepflogenheiten“ um einen Verweis auf außerrechtliche, gesellschaftliche Ordnungsgefüge handele – klassischerweise etwa Verkehrssitte, Handelsbräuche, Geschäftsethik oder unternehmerische Verhaltenskodizes. Derlei Erscheinungsformen „gesellschaftlicher Normsetzung“ haben knapp 100 Jahre nach Hinzufügung des Art. 10bis Abs. 2 in die PVÜ einen ungeahnten Bedeutungsgewinn erfahren: Denn die Globalisierung bringt es mit sich, dass – in Ansehung territorial begrenzter Steuerungsmacht der Nationalstaaten – transnational agierende nicht-staatliche Akteure mit aufs Parkett der Ordnung des Welthandels getreten sind. Die Digitalisierung bewirkt, dass sich die Macht der Gesellschaftssteuerung zunehmend auf private Marktakteure verlagert, die über durch „Big Data“-Auswertung gewonnenes Wissen verfügen und die algorithmischen Infrastrukturen einer software-basierten, „smarten“ Welt beherrschen.

So haben Sozialnormen der Software-Community, Allgemeine Geschäftsbedingungen mächtiger Plattformen, Verhaltenskodizes transnationaler Tech-Unternehmen und verhaltenssteuernde Wirkungen von Computer-Technik maßgeblichen Einfluss auf die „Spielregeln“ digitaler Märkte. Wer etwa mit einem „selbstfahrenden Auto“ von A nach B gelangen möchte, kann dies nur im von der Programmiererin/dem Programmierer vorgesehen Umfang – und auch die „Entscheidung“ des Autos im Gefahr- und Schadensfalle wird durch den Code determiniert. Wer auf einer Plattform Waren und Dienstleistungen anbieten oder nachfragen, Immaterialgüterrechte nutzen möchte, kann dies nur in dem Maße, das Plattform-Regularien und Plattform-Algorithmen gestatten: Die Kontroverse um „Upload-Filter“ im Urheberrecht hat diese Problematik in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit gerückt. Solch gesellschaftliche Normsetzung birgt offenkundig zahlreiche Gefahren – aber nicht nur: Seit jeher beruht etwa die „lex mercatoria“ der Kaufleute nach populärer Lesart auf den Vorzügen sachverständiger Selbstregulierung. Umso mehr gilt heute, dass die technische Expertise, derer es etwa für sinnvolle technische Normung bedarf, auf Seiten privater Marktakteure liegt, während das staatliche Recht nach einer verbreiteten Metapher dem rasanten technischen Fortschritt regelmäßig „hinterherhinke“. Der Analyse solcher Phänomene widmet sich das interdisziplinäre Feld der Rechtspluralismusforschung.

Nun liegt auf der Hand, dass sich die faktische Wirkmächtigkeit solch rechtspluralistischer Erscheinungen keineswegs auf diejenigen Aspekte des Wirtschaftslebens beschränkt, die rechtssystematisch dem Lauterkeitsrecht unterfallen. Vielmehr prägt gesellschaftliche Normsetzung auch die Regelungssphären angrenzender Gebiete der Wettbewerbsregulierung wie Immaterialgüter-, Kartell-, Datenschutz- und Vertragsrecht. Daraus folgt, dass die Formel der „anständigen Gepflogenheiten“, so es gelingt, sie sachgerecht mit Leben zu füllen, weit über das Lauterkeitsrecht hinaus das Potential innehat, die in all jenen Gebieten vorzufindenden Fairness-Tatbestände zu durchdringen und den Weg zur Konturierung eines übergreifenden Rechtsprinzips zu weisen. Dessen Ziel ist klar: Aus den zunächst soziologisch beobachtbaren Gepflogenheiten sind vom staatlichen Recht diejenigen herauszufiltern, die im normativen Sinne „anständig“ sind, und es ist denjenigen regulativ entgegenzutreten, die es nicht sind.

Die Arbeit weist vor diesem Hintergrund dem Fairness-Prinzip die Rolle zu, aus Sicht des staatlichen Rechts die Interaktion staatlicher und nicht staatlicher Marktverhaltensregeln in insgesamt gemeinwohldienliche Bahnen zu lenken. Das bedeutet einerseits, dass nicht-staatliche Marktverhaltensnormen, welche gewissen Legitimitätsstandards genügen und damit im normativen Sinne als „anständig“ erscheinen, zur Konkretisierung staatlich-rechtlicher Fairness-Tatbestände in allen Bereichen des wettbewerbsbezogenen Wirtschaftsrechts heranzuziehen sind. Es bedeutet andererseits, dass staatliche Regulierer faktisch vorzufindende gesellschaftliche Normen durch anreizbasierte Strategien der „Meta-Regulierung“ dahingehend steuern sollten, dass auch sie den staatlich-rechtlichen Gemeinwohlzielen, insbesondere der grund- und menschenrechtlichen Werteordnung, umfassend zum Durchbruch verhelfen und nicht zuwiderlaufen. Das Fairness-Prinzip kann damit als normatives Brückenprinzip zwischen Recht und Gesellschaft definiert werden.


Publikationen

Scheuerer, Stefan, Fairness als Rechtsprinzip. Die anständigen Marktgepflogenheiten der Digitalwirtschaft (Schriftenreihe zum gewerblichen Rechtsschutz, 200), Wolters Heymanns, Hürth 2023, XX + 408 Seiten.

Scheuerer, Stefan, The Fairness Principle in Competition-Related Economic Law, GRUR International 72, 10 (2023), 919–932.

Persons

Doctoral Student

Stefan Scheuerer

Supervisor

Prof. Dr. Frauke Henning-Bodewig

Main Areas of Research

I.4 Fairness als Rechtsprinzip