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Dissertation
Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht

Der Missbrauch einer kollektiven marktbeherrschenden Stellung in der digitalen Wirtschaft

Den Gegenstand dieser kartellrechtlichen Dissertationsarbeit bildet der Missbrauch einer kollektiven marktbeherrschenden Stellung in der digitalen Wirtschaft. In bisherigen Untersuchungen zur kollektiven Marktbeherrschung wird der kollektiven Marktbeherrschung oft nur eine ergänzende Aufmerksamkeit zuteil. Die digitale Wirtschaft zeichnet sich zudem durch einige Besonderheiten aus, die ein Entstehen von kollektiver Marktbeherrschung begünstigen können. Die Dissertation identifiziert das kartellrechtliche Verbot des Missbrauchs kollektiver Marktbeherrschung als ein effektives Instrument, um mit hochdynamischen und disruptiven Veränderungen im Kontext der digitalen Transformation von Wirtschaftssektoren fertig zu werden.

Die vorliegende Arbeit verfolgt einen qualitativen Ansatz, der sich auf die Rechtsprechung und die behördliche Praxis stützt, um induktiv auf die allgemeinen Kriterien für die Feststellung einer kollektiven Marktbeherrschung und für die Identifizierung des Missbrauchs einer kollektiven Marktbeherrschung zu schließen. Die Arbeit folgt auch der deduktiven Logik. Ausgehend von den allgemeinen Kriterien für die Feststellung einer kollektiven Marktbeherrschung und deren Missbrauch werden die Erscheinungsformen des missbräuchlichen Verhaltens in der digitalen Wirtschaft ermittelt, wobei die Besonderheiten der digitalen Wirtschaft berücksichtigt werden.

Die Lehre der kollektiven marktbeherrschenden Stellung ergibt sich aus dem Oligopolproblem. Unter dem Einfluss der oligopolistischen Interdependenz gibt eine kleine Anzahl von Unternehmen die Wettbewerbsinitiative im Innenverhältnis auf und erwirbt durch eine stillschweigende Zusammenarbeit (stillschweigende Kollusion) gemeinsam die Fähigkeit, unabhängig von anderen Marktteilnehmern zu handeln. Dies führt dazu, dass sie als eine kollektive Einheit gemeinsam eine marktbeherrschende Stellung einnehmen, als wären sie ein einziges Unternehmen.

Eine kollektive Marktbeherrschung kann nicht mit oligopolistischen Marktstrukturen gleichgesetzt werden. Eine Oligopolstruktur bzw. oligopolistische Interdependenz können starke Indizien für kollektive Marktbeherrschung sein, rechtfertigen jedoch keine zwingenden Schlussfolgerungen. Eine kollektive Marktbeherrschung kann nur dann entstehen, wenn das aus der oligopolistischen Interdependenz resultierende Parallelverhalten eine gewisse Stabilität aufweist. Mit anderen Worten: oligopolistische Marktbedingungen ermöglichen das Funktionieren von Mechanismen der stillschweigenden Kollusion.

Eine kollektive Marktbeherrschung kann nicht mit einer stillschweigenden Kollusion gleichgesetzt werden. Die kollektive Marktbeherrschung ist eine wirtschaftliche Machtstellung mehrerer Unternehmen in einem statischen Sinne. Die stillschweigende Kollusion ist ein Gleichgewicht, das die Wettbewerber in einem dynamischen Sinne im Rahmen wiederholter Interaktionen erreichen. Außerdem ist die stillschweigende Kollusion nur eine der Grundlagen für das Entstehen einer kollektiven Marktbeherrschung. Wirtschaftliche Verbindungen zwischen Unternehmen können ebenso dazu führen.

Die kollektive Marktbeherrschung hat in der digitalen Wirtschaft große Praxisrelevanz, da die Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt der digitalen Wirtschaft stillschweigende Kollusion und damit die Begründung und Verstärkung einer kollektiven Marktbeherrschung begünstigen. Positive Netzwerkeffekte, Skaleneffekte und Großfusionen führen unweigerlich zu einer erhöhten Marktkonzentration. Vor allem Netzwerkeffekte in der Plattformwirtschaft stärken mit zunehmender Zahl der Nutzer die Marktmacht einzelner Plattformbetreiber. Wenn eine bestimmte kritische Masse an Nutzern der Plattformen erreicht ist, wird der Markt in Richtung einer oder weniger Plattformen kippen. Infolgedessen weisen die Märkte der digitalen Wirtschaft in der Regel oligopolistische Marktstrukturen auf.

Die Fallgruppe des Missbrauchs einer kollektiven Marktbeherrschung durch Hebelverhalten der Plattformen, d. h. durch die Übertragung von Marktmacht von einem Primärmarkt auf andere komplementäre Märkte, wodurch der Wettbewerb eingeschränkt wird, spielt in der Digitalwirtschaft eine große Rolle. Ein Hebelverhalten liegt insbesondere in den Fällen der Kosten-Preis-Schere, Selbstbevorzugung sowie der Kopplung und Bündelung vor. Der einzelne Plattformbetreiber hat einen starken Anreiz, seine Marktmacht auf weitere Märkte auszudehnen, um eigene, kaum mehr angreifbare digitale Ökosysteme aufzubauen. Das vertikal integrierte Geschäftsmodell ermöglicht den Plattformen, ihre bereits vorhandene Marktmacht zu nutzen, um weitere Märkte zu erschließen. Die virtuelle Natur von Daten und Algorithmen erleichtert die Übertragung von Marktmacht auf kosteneffiziente Weise. Entscheidend ist auch, dass die Besonderheiten des digitalen Marktes die Grenzen der Theorie des einzigen Monopolgewinns aufzeigen. Dies kann daher erklären, dass es für marktbeherrschende Plattformen profitabel ist, eine Hebelwirkung auszuüben.

Eine weitere bemerkenswerte Fallgruppe des Missbrauchs einer kollektiven Marktbeherrschung in der digitalen Wirtschaft bilden die „Facilitating Practices“. Gemeint ist der Fall, dass wirksamer Wettbewerb durch das Bestehen einer kollektiven Marktbeherrschung bereits geschwächt ist und die „Facilitating Practices“ weiter zur Aufrechterhaltung dieses Status quo beitragen. Zusätzliche Maßnahmen zur weiteren Erhöhung der Transparenz, zur Verstärkung der Anreize für die dauerhafte Aufrechterhaltbarkeit einer stillschweigenden Koordinierung sowie Maßnahmen zur Steigerung der Wirksamkeit von Droh- und Sanktionsmechanismen gegen Abweichungen sind Beispiele dafür. Die weiteren Beispiele sind Minderheitsbeteiligung und der Einsatz der Meistbegünstigungsklauseln, die die Verflechtungen zwischen Unternehmen verstärken und die Wiederherstellung eines wirksamen internen Wettbewerbs einschränken können.

Wenn die „Facilitating Practices“ von einem Algorithmus durchgeführt werden, ist die Gefahr und das Ausmaß einer Schädigung des Wettbewerbs wahrscheinlich größer. Überwachungsalgorithmen, Signalisierungsalgorithmen und Sanktionsalgorithmen können die Wirksamkeit der drei Elemente, die das Entstehen und die Stabilisierung stillschweigender Kollusion begünstigen, erheblich verbessern. Hochintelligente Algorithmen können sogar die Entscheidung treffen, in bestimmten Fällen auf Sanktionen für Abweichungen zu verzichten, um Gewinneinbußen aufgrund von Fehleinschätzungen oder Preiskämpfen zu vermeiden.

Persons

Doctoral Student

Zhiren Xu

Supervisor

Dr. Dr. Mark-Oliver Mackenrodt, LL.M. (NYU)

Doctoral Supervisor

Prof. Dr. Christian Alexander, Friedrich-Schiller-Universität, Jena

Main Areas of Research

II.3 Vernetzte Datenwirtschaft